Was ist Intergeschlechtlichkeit?

Intergeschlechtlich geborene Menschen kommen mit Körperanlagen und Geschlechtsmerkmalen zur Welt, die nach medizinischen Kriterien weder eindeutig weiblich noch eindeutig männlich bewertet werden. Sie haben
eine sehr individuelle Kombination von Geschlechtschromosomen, Keimdrüsen (Testes, Ovarien, Mischformen), Hormonen und deren Wirkweisen im Körper sowie anatomischen Merkmalen, die von den gesellschaftlichen Normen männlicher und weiblicher Körper abweichen, Manche Varianten der Intergeschlechtlichkeit werden direkt bei der Geburt erkannt. Andere Menschen erfahren erst mit der Pubertät von ihrer Intergeschlechtlichkeit oder auch gar nicht, weil die Intergeschlechtlichkeit nie entdeckt wurde.

Es gibt viele verschiedene Formen der Intergeschlechtlichkeit, die sich in ihrer Ausprägung und Erscheinung unterscheiden können. Einige Beispiele sind:

  • Androgeninsensitivitätssyndrom (AIS): Eine genetische Variation bei Menschen mit einem XY- Chromosom (oder XYY), bei der der Körper teilweise oder vollständig unempfindlich gegenüber Androgenen (männlichen Hormonen) ist. Die unempfindlichen Körperstellen werden durch die körpereigene Androgenproduktion nicht verändert, weswegen z.B. bei der kompletten Androgeninsensivität (CAIS) die physische Erscheinung weiblich wahrgenommen wird.
  • Klinefelter-Syndrom: Eine chromosomale Variation, bei der eine Person ein zusätzliches X-Chromosom hat oder mehrere (XXY, XXXY, XXXYY …) .
  • Turner-Syndrom: Eine chromosomale Variation, bei der eine Person nur ein X-Chromosom hat (X statt XX).
  • Congenital Adrenal Hyperplasia (CAH): Eine hormonelle Variation, bei der die Nebennieren vermehrt Androgene produzieren.
  • und noch viele weitere Varianten

Intergeschlechtlichkeit ist ein natürlicher und vielfältiger Aspekt der menschlichen Biologie. Es ist wichtig, intergeschlechtliche Menschen zu respektieren und ihre Rechte zu schützen.

Wie viele intergeschlechtliche Menschen gibt es?

Aussagen zur Anzahl von intergeschlechtlichen Menschen in der Gesellschaft und zur Geburtenrate variieren zwischen 0,021 und 1,7 Prozent – je nachdem, wie viele Varianten von Intergeschlechtlichkeit berücksichtigt werden. Die Weltgesundheitsorganisation geht von einem Anteil intergeschlechtlich geborener Menschen in der Gesamtgesellschaft weltweit von 1,7 % aus. Das sind ungefähr so viele Menschen, wie es rothaarige Menschen auf der Welt gibt.

Nordrhein-Westfalen ist mit rund 17,9 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Deutschlands. Ausgehend von dem Anteil von 1,7% intergeschlechtlich geborenen Menschen in der Gesamtbevölkerung, leben ca. 304.000 intergeschlechtliche Menschen in NRW.

Auf jeden Fall gibt es mehr intergeschlechtliche Menschen in Deutschland und Nordrhein-Westfalen, als es scheint. Denn viele Menschen legen ihre Intergeschlechtlichkeit nicht offen, um sich vor Diskriminierung zu schützen. Viele wissen nicht, dass sie intergeschlechtlich sind. Es ist wichtig, die Vielfalt der Geschlechteridentitäten anzuerkennen und zu respektieren.

Medizinische und gesellschaftliche Herausforderungen

Für intergeschlechtliche Menschen kann die Suche nach geeigneten medizinischen Anlaufstellen und damit die Gestaltung der allgemeinen Gesundheitsversorgung eine große Herausforderung werden. Viele in der Medizin Tätige kennen sich nicht mit Intergeschlechtlichkeit und den unterschiedlichen Varianten aus. Bei spezialisierten medizinischen Anlaufstellen müssen sie meist lange auf einen Termin warten und für den Termin oft lange Fahrtwege in Kauf nehmen.

Außerdem stehen intergeschlechtliche Menschen häufig vor medizinischen Entscheidungen, die ihr körperliches und emotionales Wohlbefinden beeinflussen können und für die es oft keine Erkenntnisse aus medizinischen Studien gibt.

Diese Gesamtsituation ist sehr belastend für intergeschlechtliche Menschen und kann ihre körperliche und die psychische Gesundheit beeinträchtigen.

Viele intergeschlechtliche Menschen haben im Kindes- und Jugendalter operative und hormonelle Eingriffe erlebt, die rein kosmetische Ziele verfolgten, nämliche die optische Angleichung an Vorstellungen der Medizin an das männliche oder weibliche Geschlecht. Diese Behandlungen waren für die meisten von ihnen traumatisierend und sie haben das Vertrauen in das medizinische System verloren.

Trotz der Einführung des sogenannten Operationsverbots, sind nicht alle intergeschlechtlich geborenen Kinder vor kosmetischen Behandlungen am Genital geschützt. Der Schutz von intergeschlechtlich geborenen Kindern muss unbedingt gestärkt werden!

Geschichte der Intergeschlechtlichkeit

Die Geschichte der Intergeschlechtlichkeit ist geprägt von Fremdbestimmung, Tabuisierung und die medizinische Pathologisierung, aber auch von Widerstand, Empowerment und dem Kampf um Anerkennung der Persönlichkeitsrechte und Schutz vor unnötigen medizinischen Behandlungen.

Frühe Geschichte

Intergeschlechtliche Menschen gibt es seit Menschen gibt. Sie waren nur gesellschaftlich sichtbarer oder weniger bis gar nicht sichtbar gemacht. Es gibt historische Aufzeichnungen und Berichte über intergeschlechtliche Menschen in verschiedenen Kulturen und Epochen, die bis in die Antike reichen. In der Antike wurden intergeschlechtliche Menschen oft als besondere oder göttliche Wesen angesehen. In einigen Kulturen wurden sie verehrt, während sie in anderen als Omen oder Zeichen galten.

19. und 20. Jahrhundert

Im 19 frühen 20. Jahrhundert begannen die Medizin und Biologie sich intensiver mit Intergeschlechtlichkeit zu beschäftigen, jedoch mit dem Fokus auf die Tierwelt. In diesen Bereichen wurde der Begriff “Intersexualität” um 1915 vom Genetiker Richard Goldschmidt geprägt. Er verwendete den Begriff, um “sexuelle Zwischenstufen” bei Nachtfaltern zu beschreiben. Aber auch der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld postulierte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts die sexuellen Zwischenstufen beim Menschen und hielt seine Beobachtungen in seinen Schriften fest. 1907 erschien außerdem die Biografie von N.O. Body (Karl M. Baer), einer intergeschlechtlichen Person, unter dem Titel: Eines Mannes Mädchenjahre.

Zeit des NS-Regime

In der Zeit des NS-Regimes wurden alle Schriften zum Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt verbrannt, die u.a. Magnus Hirschfeld in seinem Sexualwissenschaftlichen Institut gesammelt hatte. Intergeschlechtlichkeit
wurde im Nationalsozialismus zu einer Verfolgungskategorie, ähnlich wie Homosexualität und Transgeschlechlichkeit. Intergeschlechtliche Menschen, die ihre Intergeschlechtlichkeit nicht verstecken konnten, liefen Gefahr dem Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten zum Opfer zu fallen.

Nach dem NS-Regime bis zum Millennium

Mit dem Ende des NS-Regimes blieb Intergeschlechtlichkeit aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verdrängt und intergeschlechtlichen Menschen ein Tabu auferlegt. Die Biologie und Medizin haben nach dem NS-Regime ihre Möglichkeiten, insbesondere in der Diagnostik, rapide erweitert. Seit 1959 ist es möglich, erste Karyogramme zu erstellen. Damit wurden zunehmend Varianten der Intergeschlechtlichkeit auf chromosomaler Ebene erkannt oder Gründe für das Erscheinungsbild intergeschlechtlicher Menschen festgehalten. Leider deutete die Medizin diese Varianten als Krankheit, was zu einer immensen Pathologisierung von intergeschlechtlichen Körpern führte. Viele intergeschlechtlich geborene Menschen wurden Opfer genitalverändernder Operationen im Kindesalter und von Hormonbehandlungen im Kindes- und Jugendalter, um einem fremdbestimmten Erziehungsgeschlecht zu entsprechen. In der Familie sollte nicht über den Grund der Behandlungen gesprochen werden, und das Kind wurde konsequent als „Junge oder Mädchen“ erzogen, um es nicht zu verunsichern.

So gestaltete sich der medizinische Umgang mit intergeschlechtlichen Menschen bis in die 2000er Jahre. Dies führte dazu, dass intergeschlechtliche Menschen weitestgehend unsichtbar gemacht wurden. Viele leiden noch heute unter den Folgen der medizinischen Behandlungen und dem auferlegten Tabu. In den 1990er Jahren taten sich intergeschlechtliche Menschen zusammen, um aktiv gegen diese menschenrechtsverletzende Praxis zu kämpfen und für ihre rechtliche Gleichstellung und Anerkennung einzutreten.

Ab 2000 bis Heute

Der Zusammenschluss von intergeschlechtlichen Menschen in Selbstvertretungen und deren lauter werdende Stimmen und Forderungen führten zu einer zunehmenden gesellschaftlichen Aufmerksamkeit und Anerkennung sowie zu einer Stärkung ihrer Rechte.

Im Jahr 2000 beantragte erstmals eine intergeschlechtliche Person, den Personenstand zwittrig eintragen zu lassen. 2003 entschied das Gericht gegen den Antrag. 2013 wurde das Personenstandsgesetz geändert, sodass man nun auf einen Geschlechtseintrag verzichten oder diesen streichen lassen konnte. Dies folgte der Stellungnahme des deutschen Ethikrates von 2012, der eine „andere“ Eintragungsmöglichkeit empfahl. Der Ethikrat machte auch deutlich, dass operative, kosmetische Behandlungen bei intergeschlechtlichen Kindern Eingriffe in mehrere Persönlichkeitsrechte darstellen, wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Solche medizinischen Maßnahmen sollten aufgeschoben werden, bis die betroffene Person einwilligungsfähig ist.

2018 klagte die Kampagne Dritte Option beim Bundesverfassungsgericht die Einführung eines positiven Geschlechtseintrags für intergeschlechtliche Menschen ein. Seit 2019 können intergeschlechtliche Menschen „divers“ als Geschlecht eintragen lassen.

2021 wurde das Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung eingeführt, das sogenannte „OP-Verbot“. Dieses Gesetz beschränkt das elterliche Sorgerecht, sodass Eltern nicht einfach in kosmetische Operationen einwilligen können. Sie benötigen eine medizinisch/psychologische Stellungnahme und eine familiengerichtliche Entscheidung.

2024 trat das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft, welches allen Menschen einen selbstbestimmten Personenstandswechsel ermöglicht.

Rechte von intergeschlechtlichen Menschen

Intergeschlechtliche Menschen haben dieselben Menschen- und Grundrechte wie alle Menschen, so wie sie in Menschenrechtsdeklarationen und dem deutschen Grundgesetz verankert sind. Außerdem gibt es für intergeschlechtliche Menschen spezifische rechtliche Regelungen, welche die Persönlichkeitsrechte intergeschlechtlicher Menschen stärken und sie vor Diskriminierung schützen sollen. Hier sind ein Paar rechtliche Beispiele aufgeführt:

Mythen über Intergeschlechtlichkeit

Es gibt viele Mythen und Missverständnisse über Intergeschlechtlichkeit, die oft zu Stigmatisierung und Diskriminierung führen. Um diese Missverständnisse zu klären, nehmen wir einige der häufigsten Mythen und entkräften sie mit den Fakten:

Mythos: „Intergeschlechtlichkeit ist selten“

Fakt: Intergeschlechtlichkeit ist häufiger, als viele denken. Schätzungen zufolge ist etwa 1 von 500 bis 1.000 Geburten intergeschlechtlich. Die Weltgesundheitsorganisation geht von etwa 1,7% der Weltbevölkerung aus, die intergeschlechtlich geboren sind. Für Nordrhein-Westfalen bedeutet das, dass circa 304.000 intergeschlechtliche Menschen leben.

Mythos: „Intergeschlechtlichkeit ist eine Krankheit“

Fakt: Intergeschlechtlichkeit ist keine Krankheit, sondern eine natürliche biologische Variation. In einigen Fällen kann es medizinischen Handlungsbedarf geben, wie etwa beim Adrenogenitalen Syndrom (AGS), wo unbehandelte Salzverlustkrisen ein Gesundheitsrisiko darstellen können

Mythos: „Intergeschlechtliche Menschen sind weder männlich noch weiblich“

Fakt: Intergeschlechtliche Menschen können sich als männlich, weiblich, beides oder weder noch identifizieren. Die Geschlechtsidentität ist eine persönliche und individuelle Entscheidung und unabhängig von körperlichen Merkmalen.

Mythos: „Intergeschlechtliche Menschen müssen operiert werden, um “normal” zu sein“

Fakt: Viele intergeschlechtliche Menschen lehnen unnötige medizinische Eingriffe ab, die häufig ohne ihre Zustimmung durchgeführt wurden. Solche Eingriffe können lebenslange physische und psychische Folgen haben und sind nicht immer im besten Interesse des betroffenen Menschen. Es ist entscheidend, dass Eltern und medizinisches Personal die Entscheidung den betroffenen Personen überlassen, wenn sie alt genug sind, ihre eigene Geschlechtsidentität zu verstehen.

Wichtiger Hinweis: Unabhängig davon, ob sie medizinische Behandlungen erfahren haben oder nicht, identifizieren sich viele intergeschlechtliche Menschen nicht mit dem Geschlecht, das ihnen nach der Geburt amtlich zugewiesen wurde. Es ist wichtig, dass Eltern und medizinisches Personal abwarten und die Entscheidung dem Kind überlassen, wenn es alt genug ist, seine eigene Geschlechtsidentität zu verstehen und zu äußern. Eltern sollten dabei unterstützt werden, ihr Kind aufgeklärt und altersgerecht zu begleiten. Diese erzwungenen Eingriffe sind auch nach Artikel 1 des Grundgesetzes, welcher die Würde des Menschen und das Recht auf körperliche Unversehrtheit schützt, unzulässig. Jede Zuwiderhandlung dessen ist strafbar und stellt eine schwere Form der Körperverletzung dar. Auch Eltern dürfen solche Entscheidungen nicht treffen – sie obliegt dem jeweiligen intergeschlechtlichen Menschen selbst, wenn dieser alt genug ist, dies selbst zu entscheiden.

Mythos: „Intergeschlechtlichkeit ist dasselbe wie Transgeschlechtlichkeit“

Fakt: Intergeschlechtlichkeit betrifft körperliche Merkmale, die nicht eindeutig männlich oder weiblich sind, während Transgeschlechtlichkeit die Geschlechtsidentität betrifft – also das innere Gefühl, welchem Geschlecht man angehört. Beide Konzepte betreffen unterschiedliche Aspekte des Geschlechts: Intergeschlechtlichkeit bezieht sich auf den Körper, Transgeschlechtlichkeit auf das empfundene Geschlecht..

Quellen

  • https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/themen/sexuelle-orientierung-und-geschlechtsidentitaet
  • https://de.wikipedia.org/wiki/Intergeschlechtlichkeit
  • https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ueber-diskriminierung/diskriminierungsmerkmale/geschlecht-und-geschlechtsidentitaet/inter/inter-node.html
  • https://oiigermany.org/
  • https://www.bing.com/search?q=Geschichte+der+Intergeschlechtlichkeit
  • https://www.aau.at/wp-content/uploads/2021/04/Inter_GeschichteDiskurs_Handbuch.pdf
  • https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-12496-0_78
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